60 Jahre – Rückblick und Ausblick

Im Alter von 77 Jahren, mehr als 60 Jahre nach dem Eintritt in das Erwerbsleben, lohnt es sich, zurückzublicken. Ich bin der Ansicht, wir haben große Fortschritte seit 1954 gemacht.

Der Definition nach ist Fortschritt die Veränderung eines Systems zur Annäherung an ein erwünschtes Ziel. Was aber, wenn die Ziele der Ändernden nicht mit den Zielen anderer übereinstimmen? Für die ist Fortschritt dann eine Fehlentwicklung.

1954 war „der Krieg“ seit 9 Jahren vorbei, die Schäden waren einigermaßen repariert, aber es war noch viel zu tun. Hamburg war von seinem traditionellen Hinterland abgeschnitten und aufgrund schlechter Verbindungen zu Wasser und auf der Straße noch nicht wieder konkurrenzfähig. Besonders die kleinen Unternehmen, die häufig ihre Betriebe in den Wohngebieten hatten, litten noch unter den Folgen des Krieges durch Bombenschäden, deren Ausmaß man sich heute nur schlecht vorstellen mag. Im Krieg hatte man in Hamburg ein Wohngebiet von mehreren Quadratkilometern (in dem sich auch die Werkstatt meines Vaters befand) eingemauert und jeden Zugang untersagt, weil die Gebäude fast vollkommen zerstört waren und man die Leichen nicht restlos beseitigen konnte. Erst einige Jahre nach dem Krieg begann dort der Wiederaufbau.

Am 1. April 1954 begann ich eine Lehre bei der Steinwerder Industrie A.G. (heute Blohm + Voss AG), einer von 6 aus 200 Bewerbern auf dem Gelände und in den Gebäuderesten der demontierten Werft Blohm & Voss. Wir waren der zweite Jahrgang nach dem Neustart, unsere Vorgänger mussten noch die Lehrwerkstatt einrichten.

Produktion war damals etwas völlig anderes als heute. Materialflussplanung war nur ein unwesentliches Thema, das Hauptmagazin war am Rande der Werft, etwa 600 m von der Maschinenbauhalle entfernt. Die Fertigungssteuerung beschränkte sich auf die Vorgabe von Terminen für „Gussteile“, „Schweißarbeiten“, „Großdrehteile“, „Kleinteile“, „Montage“ usw. Alles andere lief nach Zuruf. Die Zerspanung geschah auf speziellen Werkzeugmaschinen, Schritt für Schritt. NC-Steuerungen, Bearbeitungszentren oder Fertigungsinseln waren noch nicht einmal angedacht. Der Facharbeiter hatte seine Arbeit nach Vorgaben zu erledigen, häufig ohne zu wissen, wofür das Teil verwendet wird. Verbesserungsvorschlagswesen? Fehlanzeige.

Wir arbeiteten 48 Stunden in der Woche bei zwei Wochen Jahresurlaub. Arbeiter und Angestellte waren sauber getrennt, es gab ein Arbeiteramt für die Arbeiter und eine Personalabteilung für die Angestellten. Arbeiter wurden vom Meister eingestellt und entlassen. Das Arbeiteramt hatte nur Verwaltungsfunktionen. Mittagessen gab es in zwei Schichten: 11:50 Uhr für die Arbeiter (wenn man nicht aus Kostengründen an der Werkbank aß) und 13:00 Uhr für die Angestellten. Mitarbeiterfortbildung war kein Thema. Betriebsunfälle waren an der Tagesordnung. Die Arbeitnehmervertretung konzentrierte sich auf Fragen der Entlohnung.

Nach der Lehre wollte ich die Ingenieurschule besuchen, mein Ausbildungsbetrieb bot mir ein Stipendium an. Der Haken war, dass es an der Ingenieurschule eine Warteliste von mindestens drei Jahren gab. An der Abendschule konnte ich aber sofort studieren und dann nach einigen Semestern mit teilweiser Anrechnung der Zeiten wechseln.

Mit dem Abschlusszeugnis wurde ich von Blohm und Voss als Konstrukteur im Turbinenbau eingestellt. Auch diese Welt sah noch anders aus. Selbstverständlich gab es die Zeichenbretter, an denen man stand. Die Zeichnung wurde sehr detailliert und mit wenigen Symbolen erstellt. Es gab transparente Kopien, um Änderungen zum Vorgänger mit Rasierklingen und Tusche einfacher realisieren zu können. Man hatte gewisse Standards eingeführt, aber entwarf doch lieber selbst, um die Einmaligkeit der Anlage zu erreichen.

Einen ganz gewaltigen Unterschied zum modernen Betrieb gab es: Der Konstrukteur sah selten sein Produkt und ein Kontakt mit der Fertigung war von beiden Seiten nicht erwünscht. Jeder hatte Angst davor, dass der andere in seine Domäne eindringt.

Durch Zufälle und die Veränderung des Produktionsspektrums in Deutschland (z.B. die Wanderung des Schiffbaus nach Ostasien und der staatlich subventionierte Umbau zur Stromerzeugung mit Großkraftwerken), arbeitete ich nach einem Universitätsstudium einige Zeit nicht mehr in der materiellen Produktion, bis ich 1977 wieder in einem Unternehmen der Fertigungsindustrie tätig war. Das war die hohe Zeit der PPS-Systeme und der Kleinrechner. Das aktuelle PPS-System des Unternehmens lief auf einem Großrechner in Stapelverarbeitung und brachte der Produktion jeden Montag eine neue Überraschung durch die neue Terminplanung, damals „Neuaufwurf“ genannt, weil die vorhergehende Planung nicht berücksichtigt wurde. Kleinrechner wurden von den klassischen EDV-Bereichen mit Misstrauen betrachtet, aber es gelang uns, mit Zustimmung des Leiters des Bereiches Datenverarbeitung, ein System in einem Werk abseits der großen EDV zu installieren. Für den EDV-Bereich wurden dafür ein Drucker und ein Bildschirm als RJE-Geräte simuliert. Die Software, mit schritthaltender Steuerung wurde noch selbst erstellt. Bald waren diese Systeme auch in anderen Werken installiert.

Der nächste Schritt war, dass wir diese Systeme in einem Werk vernetzten und auch die Produktionsanlagen miteinander vernetzten, eine der ersten Anwendungen von LAN in der Produktion[1] . Der Leiter des Rechenzentrums wurde schrittweise über das informiert, was wir da betrieben. Die Anwendung, die wir noch um die Versorgung der Produktionsanlagen mit Prozesssteuerungsdaten erweiterten, war eine frühe einfache Teilrealisierung der Idee des CIM. Das Thema CIM beschäftigte mich noch mehrere Jahre neben anderen Themen.

1979 gab es einen großen Knall. Auf der 4. Internationalen Konferenz für Produktionsforschung in Tokyo stellte Toyota sein Produktionssystem vor. Obwohl nur wenige die Philosophie verstanden und vereinfacht Kanban als Schlüssel zur modernen Produktion ansahen, waren die Ergebnisse so beeindruckend, dass das Management forderte, sich mit dem System auseinander zu setzen. Es wurden im Konzern mehrere Pilotprojekte in Zusammenarbeit mit einem japanischen Partner gestartet. Bei der Zusammenarbeit mit unseren japanischen Freunden wurde uns allmählich klar, dass das System wesentlich umfangreicher war als Kanban. Wir reagierten entsprechend. Einige Jahre später wurde einer der Betriebe des Konzerns als „Unternehmen des Jahres“ ausgezeichnet.

In der Zwischenzeit wurden getreu dem Motto „wer nachahmt, hinkt hinterher“ neue Methoden versucht, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Betriebe zu erhalten. Bedeutende Beispiele sind CIM als computergesteuerter Betrieb und die Fraktale Fabrik als neu organisiertes Unternehmen.

Das Konzept der Fraktalen Fabrik hat nach einer Hochphase lange Zeit stagniert, findet jetzt aber wieder zunehmendes Interesse. Ich habe einige Zeit in Kooperation mit dem IPA der Fraunhofer Gesellschaft an diesem Thema mitgearbeitet, besonders zum Teilgebiet „Zielsysteme“.

Auch über CIM hat man lange Zeit nicht mehr gesprochen. Viele laufende Projekte zum Thema CIM sind um 1990 eingestellt worden, weil man die komplexen Abläufe technisch und organisatorisch noch nicht beherrschte. Besonders die Furcht vor dem Verlust des eigenen Wissensmonopols war ein Hindernis, das erst jetzt durch die verstärkte Tendenz zur Kooperation überwunden werden kann. Aber die Voraus-setzungen haben sich durch die Entwicklung und Verbreitung der Informations-technologie verbessert. Praktisch jeder arbeitet heute mit einem PC. Jetzt feiert die Idee CIM als „Industrie 4.0“ fröhliche Urstände.

Daneben wurde das Toyota Produktionssystem ständig weiterentwickelt, zum einen durch verbesserte Kenntnisse der Philosophie des Systems, zum anderen durch neue oder neu gestaltete Methoden. Viele Unternehmen haben die Grundsätze unbewusst übernommen, ohne die klassischen Methoden anzuwenden.

Eine wesentliche Erkenntnis ist die Bedeutung des Menschen für die Weiterentwicklung eines Betriebes. Aus der Kenntnis der Schwachstellen in den ihm vorgegebenen Verfahren, häufig begleitet von seinem Ärger über den „Mist“, den andere „verzapft“ haben, entwickelt der Mitarbeiter aufgrund seiner Erfahrungen neue, verbesserte Methoden.

Dass die Mitarbeiter aufgrund ihrer Erfahrung auch Störungen schnell beseitigen können, wenn sie dazu motiviert sind, wurde mir bei einem Vortrag von Horst Wildemann in den neunziger Jahren bewusst. Er erwähnte, dass alle Versuche, das Kanbanverfahren mit Algorithmen zu simulieren, ergeben haben, dass es schon bei kleineren Störungen versagen würde. Mir wurde in dem Moment klar, dass eine Bedingung für einen modernen Betrieb ist, dass die Mitarbeiter aus eigenem Antrieb die Störungen beseitigen. Dabei fiel mir eine Szene in einem Werk in Japan ein, als ein Zug von Transportwagen sich verklemmt hatte und mein Gesprächspartner, der Werksleiter, sich nicht zu schade war, unverzüglich einzugreifen und dem Fahrer des Transportes zu helfen.

Voraussetzung für dieses Verhalten, sind neben einer flachen und „herunter-gespielten“ Hierarchie, gut qualifizierte Mitarbeiter. In vielen Schwellenändern, in denen heute Werke gebaut werden, fehlen diese Voraussetzungen und man ist gezwungen, entsprechend dem Prinzip „Taylor“ die Vorgänge so herunter zu brechen, dass sie von schlecht qualifizierten Mitarbeitern durchgeführt werden können. Den höheren Aufwand muss man durch entsprechend niedrige Löhne kompensieren. Die großen Qualifikationsunterschiede in diesen Werken erschweren auch die Kooperation zwischen den einzelnen Gewerken. Sie sind in der Organisation auf einem Stand, der dem der deutschen Produktion von 1954 ähnelt.

Henry Ford war der Meinung, dass Zulieferer stören und nicht das optimale Produkt liefern. Bis in die neunziger Jahre war man auch in der westlichen Industrie häufig der gleichen Ansicht und hatte im eigenen Unternehmen eine hohe Fertigungstiefe. Es bedurfte intensiver Überzeugungsarbeit, um diese Einstellung zu ändern. Integration der Zulieferer in den Materialfluss und Kooperation bei der Produktentwicklung haben heute einen hohen Stellenwert.

Leider gibt es aber häufig noch Unternehmen, die eine entscheidende Voraussetzung für optimale Kooperation übersehen, nämlich dass gegenseitiges Vertrauen mit einer Win-Win-Einstellung verbunden ist, sonst funktioniert die Kooperation nicht. Solange besonders im schwäbischen Teil der Slogan: „Für den Abnehmer bedeutet Partnerschaft, dass der Partner schafft.“ kursiert, fehlt dieses Vertrauen, gleichgültig, ob berechtigt oder nicht.

Aber es bleibt festzustellen, dass mit neuen oder auch übernommenen Ideen die deutsche Industrie in den letzten Jahren ihre Weltmarktstellung verbessert hat. Wir brauchen immer neue Ideen, für Technologie und Organisation. Sie sind bei uns in den letzten Jahrzehnten intensiv entwickelt und realisiert worden. Dies muss aber ein offener Prozess sein, der auch in Zukunft offen zu halten ist. Produktionszweige sind vergangen und werden vergehen, neue kamen und werden kommen. Auch die Abläufe und Fertigungsverfahren unterliegen dem Wandel.

Unser Land ist 2014 nicht mehr das Land von 1954. 2074 wird es wiederum anders aussehen. Wie es aussieht ist nicht vorherzusagen. Die Vergangenheit zeigt, dass der aktuelle Stand sich sehr schnell ändern kann.

Klassische Beispiele für diese Entwicklung sind in der Vergangenheit Elektronikgeräte, Fotoindustrie, Schiffbau und Solarzellenfertigung gewesen.

  • Deutschland war eines der führenden Länder in der Unterhaltung-selektronik. Heute hat sich das geändert. Elektronische Geräte werden billiger und dabei innovativer in Asien produziert, es sei denn, es sind spezielle Hochtechnologiegeräte. Die Folge ist, dass Massenware, wie Computer, Telefone usw. importiert werden.
  • Fotoapparate, Made in Germany, waren jahrzehntelang Weltmarktführer, bis (speziell in Japan) neue, innovative Geräte den größten Teil der heimischen Produktion verdrängten.
  • Schiffe haben aufgrund ihrer Eigenschaften zu schwimmen keine Bindung an den Produktionsstandort. Man kann zwar in Europa noch Schiffe bauen, aber nur für Lücken, z.B. hochwertige Yachten oder Sonderbauten. Der Betrieb der Deutschen Werft in Hamburg-Finkenwerder war 1965 der größte Werftbetrieb der Welt, keine zehn Jahre später war er stillgelegt.

Das ist nur ein kleiner Auszug. Auf die ständige Veränderung müssen sich die Menschen in Kompetenz, Mentalität, Politik und Organisation einstellen. Besonders in der staatlichen Verwaltung gibt es da ein Defizit. Schade, dass ich nicht mehr mitarbeiten kann, aber vielleicht habe ich ja einen Teil dazu beigetragen, dass unsere Kinder und Enkel in einer Gesellschaft leben, die ihren Platz in der Welt behaupten kann.

Es gibt allerdings ein Hindernis, das unsere Gesellschaft einen guten Teil Wettbewerbsfähigkeit kostet. Unsere Gesellschaft muss ihre nicht ausgewogene Angst vor möglichen Gefahren abbauen. Zum Beispiel hat die wirtschaftliche Nutzung der Kernenergie zwar Menschenleben gefordert, die Nutzung der Wasserkraft aber um ein zig-faches mehr. Nur wenige wollen ein Verbot des Autoverkehrs, der sogar jährlich zweimal mehr Opfer bewirkt, als die Wasserkraft in den gesamten letzten fünfzig Jahren.

Auch unsere Brandschutzpolitik ist überzogen. Nach 50 Jahren Betrieb ohne Zwischenfälle hat man den Stuttgarter Fernsehturm wegen Brandgefahr gesperrt. Sowohl beim Flughafen Berlin als auch bei Stuttgart 21 tragen nach dem Baubeginn geforderte Brandschutzmaßnahmen erheblich zum Verzug der Fertigstellung bei.

Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Nicht ohne Anlass ist der Begriff „German Angst“ geschaffen. Ein gefahrloses Leben gibt es nicht. Die Angst aber bewirkt Aufwand, der sinnvoller genutzt werden könnte.

Manche Menschen lehnen das Streben nach mehr Produktion mit verringertem Aufwand als „Fortschrittswahn“ ab. Tatsache ist aber, dass die Mehrheit der Menschen genau das als Fortschritt anstrebt. Wenn unsere Gesellschaft diese Entwicklung nicht mitgestaltet und mitmacht, werden unsere Nachkommen feststellen, dass sie nicht mehr das komfortable Leben führen können, welches sie in ihrer Jugend hatten. Dann bleibt ihnen nur übrig, hinterher zu laufen.

Ich habe sechzig Jahre Erfahrung gesammelt und dazu geschrieben, beraten und und gelehrt. Ich werde jetzt alt, auch wenn ich es noch nicht richtig wahrhaben möchte. Nach 60 Jahren ziehe ich mich von öffentlichen Auftritten zurück, ohne das Interesse an der Weiterentwicklung zu verlieren.

Ich danke allen, die unsere Beiträge in den letzten zwei Jahren gelesen und hoffentlich auch gewürdigt haben!

Sollte ich rückfällig werden, so bitte ich um Verzeihung.

Helmuth Gienke


Das manufactus Team und speziell ich persönlich, möchten sich an dieser Stelle nochmals ganz, ganz herzlich bei Herrn Gienke für die tollen Beiträge bedanken!

Wie sich gezeigt hat, haben die verschiedenen Abhandlungen, die teilweise ja schon vor einigen Jahren entstanden sind, überhaupt nicht an Aktualität verloren, was uns auch die sehr positive Resonanz der Leser zeigt.

Ich bedauere es sehr, dass wir unseren „Beitrag des Monats“ nun beenden müssen, aber wer weiß, vielleicht ergeben sich daraus ja auch neue Chancen und Möglichkeiten.

Lieber Herr Gienke, nochmals vielen Dank für die tolle Zusammenarbeit und ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie Gesundheit und alles erdenklich Gute für die weitere Zukunft!

Daniel Groß

[1] Kauffels, Franz-Jochim (Hrsg.), LAN-Praxis, Köln, R.Müller, 1985 (ISBN 3-481-43821-X)