Das Problem, das sich für jeden ergibt, der Vorteile aus der Schlanken Produktion (Toyota Produktionssystem) erkannt hat, ist, die Erfahrungen der japanischen Industrie auf europäische Verhältnisse anzuwenden. Einige Betriebe, die nach diesem Prinzip organisiert sind, haben gezeigt, dass man japanische Verfahren grundsätzlich auch nach Europa übertragen kann. In vielen Betrieben sind die erhofften Vorteile aber nicht eingetreten. Viele weitere verwechseln Schlanke Produktion mit Gruppenarbeit.
Die rational definierten Komponenten des Systems, wie zum Beispiel die Idee der Verschwendung und die materiellen Anreize, sind, wenn auch mit Anpassungs-schwierigkeiten, übertragbar. Die ideelle Ausrichtung auf das Ziel „Gemeinschaft“ dagegen, ist nicht in voller Konsequenz übertragbar. Da das kulturelle Leitbild differiert, diese Methoden aber eng an die Besonderheiten der japanischen Kultur und Geschichte anknüpfen, sind Änderungen des Systems erforderlich. Die Analyse führte zur Folgerung, dass die Unternehmenskultur beeinflusst werden muss, um die Vorteile speziell deutscher Mitarbeiter (hoher Ausbildungsstand und Individualität) zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Betriebe zu nutzen. Der Mitarbeiter muss sich freier entfalten, um seine Fähigkeiten für den Betrieb einzusetzen. Der Ansatz ist, die angestrebte Verwirklichung des Menschen von der Freizeit in den Betrieb zu verlagern.
Die klassische Methode zur Lösung dieses Problems war die Gruppenarbeit, in der jeder einzelne für das Gesamte verantwortlich ist. Diese Methode versagte fast immer, die Gründe sind vielfältig, hauptsächlich aber eine mangelhafte Durchdringung in allen Ebenen der Unternehmenskultur.
Die Gruppe wurde entweder zu einem Bollwerk gegen den Rest des Unternehmens, zu einem unbeweglichen Komplex, der mangels eigener Zielsetzung auf Impulse von außen wartete oder zu einem Konglomerat, das eigene Ziele verfolgte, teilweise sich sogar (nur) auf die eigenen Probleme konzentrierte.
Entscheidend ist gewesen, dass die Gruppe nicht strukturell konsequent in einer einheitlichen Unternehmenskultur etabliert war. Dennoch zeigte das japanische Umfeld, dass die Gruppe schlagkräftiger ist als der einzelne, hierarchisch geführte Mitarbeiter, wenn das kulturelle Umfeld stimmt.
Jetzt galt es herauszufinden, wie man diese Erkenntnis in Europa nutzen kann. Die folgenden Analysen bezogen sich auf das kulturelle Umfeld im Unternehmen. Zielsetzung ist hierbei immer, das Unternehmen fit für den Wettbewerb in einem sich chaotisch ändernden Umfeld zu machen, und hierzu die Organisationseinheiten des Betriebes zu dynamisch den Umständen entsprechend agierenden Einheiten einzurichten.
Welche Prinzipien und Methoden erfüllen diese Anforderungen?
Aus der bisherigen Erkenntnis ergibt sich, dass die Vernetzung der bisher egozentrisch ausgerichteten Gruppen im Unternehmen erforderlich ist. Daraus ergeben sich die Strukturen und die erforderlichen Lenkungsmechanismen, um die Mitarbeiter anzuspornen, ihre Aktivitäten auf die Unternehmensziele zu richten.
Mehr Autonomie für den einzelnen bedeutet, überschaubare Einheiten, Verringerung der gegenseitigen Abhängigkeiten durch Zusammenfassen von Funktionen und einheitliche Zielsetzung. Die Gestaltung der Ebenen muss sich also an diesen Punkten orientieren.
Der moderne Ansatz der logistischen Kette umfasst nur die Ebenen “wirtschaftliche Aspekte”, “Information” und “Prozesse und Materialfluss”, wobei die Abläufe im Vordergrund stehen. Damit integriert dieser Ansatz zwar alle Logistikfunktionen aus funktionaler Sicht, gewährleistet aber die ständigen Veränderungen im turbulenten Umfeld nicht.
Zwei wichtige Aspekte sind dabei nicht berücksichtigt, nämlich die Strukturveränderungen und die Mitarbeitersicht, die es erlauben, selbstorganisierte, zielorientierte Anpassungen zu ermöglichen.
Beim gruppentechnologischen Ansatz, mit dem häufig die Lean Produktion verwechselt wird, werden die Ebenen sozio-informelles Verhalten und Information, teilweise auch die wirtschaftlichen Aspekte in den Vordergrund gestellt, während die Ablauforganisation schwerpunktmäßig im Gruppenprozess gestaltet wird. Die kulturelle und strategische Ebene wird nicht betrachtet, wodurch die Eingliederung der Gruppe in vertikal übergeordnete (zusammenfassende) Organisationseinheiten vernachlässigt wird.
Jeder dieser Ansätze, einschließlich der Lean Production, für sich, also isoliert implementiert, bedeutet eine Optimierung im abgegrenzten Bereich, ohne damit zwangsläufig Vorteile für das gesamte Unternehmen zu bewirken. Keiner dieser Ansätze gewährleistet die schnelle Anpassung an veränderte Gegebenheiten und Zielsetzungen. Weil die Hierarchie nicht zu einer Erstarrung des Systems führen darf, weil die Autonomie der Strukturelemente (Gruppen und einzelne Mitarbeiter) zur schnellen Anpassung gewährt bleiben muss, sind adäquate neue Lenkungs-mechanismen erforderlich. Es besteht aus einem Zielsystem mit der Zielvereinbarung innerhalb der Hierarchie und der Zielverfolgung einschließlich erforderlicher Anreizsysteme.
Das Zielsystem soll mehrere Komponenten umfassen, die von den Unternehmens-zielen abgeleitet werden. Die Unternehmensziele wiederum müssen die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Marktstellung zum Ausgang haben, woraus sich ergibt, dass auch die Teams sich an diesem Umfeld orientieren müssen. Um den einzelnen Mitarbeiter in die Verantwortung einzubinden ist besonderer Wert auf die Visualisierung der Information für das Lenkungssystem zu legen, eine Erkenntnis, die im Grundsatz auch im Toyota Produktionssystem realisiert ist. Diese Lenkungs-information umfasst zum Beispiel Ziele, deren Bedeutung, Ausprägungen und Größen, sowie den aktuellen Stand der Zielerreichung in allen definierten Ausprägungen.
Im turbulenten Umfeld werden sich die Unternehmensziele und folgerichtig auch die aktuellen vereinbarten Ziele kurzfristig ändern. Gerade um diese Änderungen durchzusetzen, müssen die aktuellen Ziele und der aktuelle Stand der Zielerreichung visualisiert werden und zwar nicht nur dem jeweiligen Team, sondern auch für das Umfeld des Teams bis zum gesamten Unternehmen.
Damit wird die Vernetzung der Einheiten trotz deren Autonomie im Unternehmen erreicht. Diese Autonomie und deren Vernetzung ist die Voraussetzung für hohe Effizienz und schnelle Anpassbarkeit.
Die Gestaltung der Betriebskultur
Die Betriebskultur kennzeichnet das Unternehmen als eine Gemeinschaft mit ihren Wert-, Orientierungs- und Verhaltensmustern. Die jeweilige Kultur des Unternehmens entwickelt sich auch als Reaktion der Gemeinschaft auf die Einflüsse aus dem Umfeld, wobei die Zielsetzung eine wichtige Leitgröße ist. Ändert sich das Verhalten des Umfeldes oder ändern sich die Ziele, ändert sich ebenfalls die Kultur des Unternehmens.
Im modernen Unternehmen kommt der Betriebskultur eine besondere Bedeutung zu, weil deren Ausprägung das Verhalten der Mitarbeiter sehr stark beeinflusst. Wenn die Verantwortung von der Führungsebene auf die ausführende Ebene verlagert wird, dann muss man diese auch respektieren und entsprechenden Mittel (Entscheidungsfreiheit, Zielsystem, Information und Anerkennung) bereitstellen. Aus diesen Forderungen ergeben sich die Anforderungen an die Gestaltung der Kultur. Da, wie bereits ausgeführt, die Ziele der Teams die Unternehmensziele unterstützen und darum ihnen ähnlich sein müssen, muss folglich die Ausprägung der Betriebskultur einheitlich im Unternehmen sein.
Der Begriff „Unternehmenskultur“ wird bereits lange benutzt, doch beschreibt er meist vorwiegend das Selbstverständnis des Unternehmens. Herausragende Beispiele aus der Vergangenheit sind zum Beispiel Bosch, mit der Maxime, die Mitarbeiter am Erfolg des Unternehmens, wenn auch in patriarchalischer Manier, partizipieren zu lassen und Siemens mit dem Prinzip, alles zu produzieren, was mit der Elektrizität zu tun hat.
Diese Beschreibungen orientieren sich aber selten an einem sich ständig verändern-den Markt, sieht man vom Testament Mizuis einmal ab, der schon vor 1700 den Kunden in den Mittelpunkt stellte und dessen Grundsätze heute noch verbindlich sind. Dazu gehören die Ansätze zur Gruppenarbeit, in denen der Mitarbeiter einem abgegrenzten Bereich zugeordnet wird und dieser sich weitgehend selbst organisieren soll. Die herkömmlichen Konzepte der Gruppenarbeit betrachten jedoch immer nur einzelne, vorwiegend an Produktionszielen ausgerichtete Aspekte, nie aber einen unternehmensumfassenden Ansatz.
Der Einfluss der Unternehmenskultur auf den Geschäftserfolg ist nicht direkt messbar. Weil zudem die Wirkung eines Wandlungsprozesses erst mit Zeitverzögerung eintritt, wurde dieser Ansatz bislang vernachlässigt oder als „nice to have“ behandelt. Man hat dabei übersehen, dass durch Einbindung der Mitarbeiter in die Verantwortung für den Unternehmenserfolg, eine tiefgreifende, nachhaltige Verbesserung der Wettbewerbsposition möglich ist, und dass zu diesem Zweck die Betriebskultur zielorientiert gestaltet werden muss. Eine positive Einstellung zur Arbeit und die Selbstverwirklichung durch Leistung sind die Fundamente für die Sicherung der Zukunft (Zukunftskommission 2000 beim Staatsministerium Baden Württembergs).
Der heute in Wissenschaft und Praxis allgemein anerkannte Stellenwert der Betriebskultur beruht auf der Erkenntnis, dass die Kultur das Handeln der Mitarbeiter prägt und deswegen nicht hemmend für die Durchführung erforderlicher Maßnahmen sein darf. Das Problem, inoffizielle Regeln, Verbote und Maximen sowie die tatsächlichen Führungsgrundsätze zu erkennen, führt auf die Analyse der sichtbaren Aktivitäten und deren Reduktion auf fundamentale, die Wahrnehmung und das Handeln unbewusst prägende Weltanschauungen. Vielen Ansätzen moderner Unternehmensstruktur ist eigen, dass sie gestaltend auf die Betriebskultur Einfluss nehmen wollen. Die Idee, im Sinne einer Initiierung der Veränderung in einem grundsätzlich offenen Prozess, die Kultur des Unternehmens zu beeinflussen, hat sich durch positive Erfahrungen bestätigt. Basis ist hierbei die Aufdeckung der Mängel des bisherigen Leitbildes und vor allem deren Auswirkung auf die Fortentwicklung des Unternehmens am Markt.
Da die Betriebskultur ein gewachsenes System von Anschauungs- und Verhaltens-mustern ist, das von der überwiegenden Mehrzahl der Mitarbeiter akzeptiert werden muss, können diese Veränderungen nicht durch aufgezwungene Grundsätze oder durch mechanische Methoden durchgeführt werden. Nicht akzeptierte Grundsätze werden bewusst oder unbewusst verfremdet oder sogar boykottiert. Die drei grund-sätzlichen Merkmale der Ebenen Kultur, Zielorientierung, Mitarbeiterorientierung und Selbstverständnis, werden im Folgenden für die Gruppenarbeit im herkömmlichen Sinn und das Toyota Produktionssystem (oder Lean Production) gegenübergestellt und analysiert.
Zielorientierung
Ziele und deren Verfolgung sind ein wichtiges Element der Fabrik. Sie heraus-zuarbeiten, zu quantifizieren und ständig anzupassen ist eine Basisfunktion. In einem Umfeld mit schnell wechselndem Verhalten der Kunden ist die Anpassung der Produktion an die geänderten Verhältnisse wichtiger als je zuvor. Diese Anpassung wird in der Fabrik durch das Zielsystem erreicht. Das Zielsystem besteht aus einem Komplex quantifizierter und messbarer Ziele, die mit den Mitarbeitern abgestimmt sind, aus Zielverfolgungssystemen, die Zielgrößen und Istgrößen nachvollziehbar und anschaulich gegenüberstellen, und einem Anreizsystem für die Mitarbeiter, sich für die Zielerreichung einzusetzen und sie als eigenes Anliegen zu betrachten. Die Ziele können sich dabei durchaus von herkömmlichen Zielen unterscheiden. Schon in der Lean Production war das Ziel “Erfüllung der Kundenwünsche” revolutionär, weil es kein klassisches betriebswirtschaftliches Ziel gewesen ist. Neu ist dabei, dass dieses extern ausgerichtete Ziel auch in der Werkstattebene verfolgt und akzeptiert wird.
Auch die Lean Production kennt implizit Ziele, die aber durch die Vermittlung mittels Überzeugungsarbeit und die strenge Bindung an fixierte Vorschriften nur langsam durchzusetzen sind. Die Vorschriften können zwar im Konsens mit der Gruppe geändert werden, sind aber bis zur Änderung verbindlich.
In der Gruppenarbeit sind solche marktwirtschaftlichen Ziele nur möglich, wenn die Gruppe ein vertriebsfähiges Produkt herstellt, die Gruppe somit im Wesentlichen isolierte Aufgaben erfüllen soll. Die Ursache ist, dass die Gruppe nur unzureichend in das Gesamtgeschehen integriert ist.
Selbstverständnis
Basis der Schlanken Produktion, ist die Identifizierung der Mitarbeiter mit dem Unternehmen, aber entstanden durch Sachzwänge in einem besonderen kulturellen Umfeld. Dieser Ansatz ist in der Gruppenarbeit nicht ausgeprägt. Dadurch fehlt in diesem System diese wichtige Eigenschaft, was Ursache für die häufig festgestellte Isolierung der Gruppen im Gesamtgeschehen ist.
Mitarbeiterorientierung
Der Mitarbeiter ist das wichtigste Element der Schlanken Produktion. Im System Gruppenarbeit ist der Mensch ein Element der Gruppe und aufgefordert, sich dort zu integrieren. Weitere Orientierung ist nicht vorgesehen. Geschichtlich ist die Gruppenarbeit aus der Vorstellung entstanden, dass der Mensch ein überschaubares Umfeld braucht, um leistungsbereit zu sein. Die Integration in das Gesamtgeschehen als Ausgangspunkt der einheitlichen Aktivitäten des Unternehmens ist zugunsten einer isolierten Gestaltung der Gruppe vernachlässigt.
Die Lean Production geht von der zentralen Bedeutung der menschlichen Aktivitäten für das Unternehmen aus, wenn auch die weltanschauliche Ausgangssituation anders als in Mitteleuropa ist. Während die mitteleuropäischen Vorstellungen den Menschen als Individuum betrachten, geht die japanische Weltanschauung vom Bild des Menschen als geistigen Bestandteil der Gesamtheit aus.
Zusammenfassung
Obwohl die Gruppenarbeit aus der Erkenntnis heraus entstanden ist, dass der Mensch auch im beruflichen Alltag eine Heimat, also ein überschaubares und vertrautes Umfeld braucht, sind die Aspekte, die das kulturelle Umfeld des Unternehmens gestalten, vernachlässigt.
In der Lean Production ist dieser Aspekt durch das patriarchalische Weltbild mit dem Grundsatz der Verantwortung der Familie “Betrieb” für den Menschen und des Menschen für die Familie “Betrieb” eingebunden.
manufactus GmbH in Kooperation mit Helmuth Gienke
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